Ich will doch nur Zeit zum Lesen

Tick-Tick-Tick. Die Zeiger drehen sich schnell. Manchmal fühl ich mich wie das weiße Kanichen, immer zu spät dran, zumindest aktuell. Wahrscheinlich hätte es sogar noch Mitleid mit mir. Ob das weiße Kanichen eigentlich irgendwann Burn-Out hatte? Vielleicht ist das wahre Problem bei Alice in Wunderland die Zeit und der Stress? Vielleicht träumt sich Alice nur in diese phantasievolle Welt, weil sie insgeheim sich zu Tode schuftet? Der Kapitalismus hat Alice in den Wahn getrieben!

Bevor  ich jetzt aber endgültig ins obskure Feld der Interpretation von Literatur gerate, kümmern wir uns eher um den richtigen Stoff. Wie schafft man sich eigentlich die Zeit beim Lesen? Ja, ich meine richtige Zeit zum Lesen. Momente in denen man ein Buch aufklappt, mit erhobenen Finger vorsichtig die Kante des Papiers streicht und dabei verführerisch auf die Lippen beißt. Zeit, in der die Hände den Buchrücken hinabgleiten und sich kraftvoll ans Lesebändchen hängen. Die zarten Worte, die einen ins Ohr flüstern und zu ganz wunderbaren Lauten werden. Ohja… das wäre geil.

Nur finde ich die nicht! Wenn ich von einem Seminar zum nächsten hechte, mich mit meiner ganzen Gewalt auf den Tisch werfe, um stolz die Hand zu heben für die Anwesenheitsliste, weiß ich nicht, wann ich noch ein Buch hätte in die Hand nehmen sollen. Beim Rennen zwischen den Gebäuden? Vielleicht Hörbücher, hätte ich bei meiner Schnappatmung aber wohl kaum gehört. Also doch Sprintleser werden? Bei der nächsten Olympiade bin ich dann aber sowas von erster Platz! Nein, das scheint keine Lösung zu sein. Außerdem, bei schnellem Stechschritt lesen ist wie Smartphone-Lemmingen beim ins-Auto-laufen zuzusehen. Lebensgefährlich, da ist Rauchen schon sicherer. Ungesund, aber langsam tödlich.

Es gibt ja durchaus auch Menschen, die an Ort und Stelle ihr Buch auspacken können und zack sind sie weg. Da könnte neben ihnen jemand schreiend und brennend vorbeilaufen, merken die nicht. Als würden sie schlichtweg in einen lesenden Dornröschenschlaf fallen. Höchstens mit einem To-Go-Kaffeebecher noch aufweckbar aus ihrer Trance, nutzen sie jede Sekunde, die ihnen ihr Terminkalender gibt und packen Seiten rein. Stapelweise. Du stupst sie an, keine Reaktion, du brüllst sie an, keine Reaktion. Eigentlich kann man nichts dagegen unternehmen, außer mit verschränkten Armen warten bis sie fertig sind und dann wird man ungläubig angesehen. „Oh, war was?“ Ja, ich wollte dir was sagen, aber jetzt hab ich es vergessen! Man! Achja und ich hab deinen Nachbarn in der Zeit erwürgt. Guck nicht so geschockt, wollte dich warnen!

Ich finde das bewunderswert, gehöre ich ja eher so zu dieser Sorte, dessen Pulsader am Schädel das Pochen anfängt, wenn jemand mit einem Gegenstand stoisch sich musikalisch ausdrücken muss. Klangmuster, die sich ins Hirn einbrennen wie bei Konditionieren. Ich koppele halt Aggression damit. Oder jemand redet in der Bahn neben mir, laut, lachend und brüllt in sein Handy. Er muss eigentlich nur ungewaschen sein, dann ist es auch schon aus mit der Leseatmosphäre. Sei es noch so leise, da hilft auch nicht mehr Musik in den Ohren, dass das Trommelfell bluten will. Die Konzentration ist einfach nicht richtig da, ausblenden geht nicht und ohne fokussieren verstehe ich nur die Hälfte, die Handlung hat Sprünge, die ich nur sehe und nicht da sind und dann starre ich doch lieber melancholisch aus dem Fenster. Denk ich mir selbst Geschichten in meinem Schädel aus, kann ich ja auch gut. Noirfilmtauglich bin ich auch, brauch nur den passeneden Filter, nachdenklich aus den Bahnfenster gucken und die Spiegelung betrachten und schon bin ich weit, weit, weit, weit… weg. Den inneren Monolog hab ich auch schon geschärft bis ins Detail. Shakespeare würde vor Neid erblassen. Aber da hab ich immer noch nichts gelesen, nicht mal ein Theaterstück.

Oder viel schlichter und doch so viel dramatischer: Ich bin einfach zu müde und kaputt. Vom Unitexte lesen (ja, die bekomme ich gelesen. Aber das ist kein Vergnüngen), markieren und zusammenfassen. Der Rücken zieht vom verkrümmten Sitzen in Posen, die Physiotherapeuten die Kasse klingeln lassen. Vom aufmerksam sein und konzentrieren, das Hirn brennt halt manchmal doch durch und wird schlaff. Viagra für das Hirn gibt’s ja eher nicht, zumindest nix einigermaßen Gesundes von Pharmakonzernen. Und keine Macht den Drogen! Brauch ja nicht noch so ein Zombie werden, bin ich ja auch schon ganz gut ohne sowas. Ohne Kaffee wäre ich schon längst mit schleifenden Fuß über den Uniboden gerobbt. Oder gleich gekrochen.

Aber verdammt nochmal, ich will lieber einfach lesen! Wie machen das also andere Menschen, die nicht die Gabe besitzen die Idiotie um sie herum auszublenden bis sie wieder Play im Leben drücken und sich aus dem Leseschlaf gehievt haben. Auf Partys lesen wie Rory Gilmore? Ich bewundere diese Fähigkeit irgendwie. Schlechte Gäste? Pack ein Buch ein und es wird trotzdem ein guter Abend. Bücher sind beste Freunde. My BFFs are books! Auf den ganzen sozialen Rest verzichten? Würde zwar introvertierten Menschen grundsätzlich gut tun, aber so ein bisschen soziale Interaktion braucht man dann doch noch. So neben Laptop, Netflix und Katze.

Nun bleibt die Frage: Ist Lesen also abhängig vom guten Zeitmanagement? Muss es ja anscheinend, wenn ich mir Kollegen und Kolleginnen ansehe. Die schaffen Fitnessstudio (wer braucht das?), zwei Nebenjobs, Universität, Blog, die Rettung von afrikanischen Kindern zu sichern UND die Abholzung des Regenwaldes gleichzeitig zu verhindern. Und dabei lesen die noch locker einen Tausendseiter im herabschauenden Hund bei ihrem Yogalehrer. Ja, vielleicht hab ich einfach ein mieses Zeitmanagement? Oder bin zu wenig Halbgott? Sixpack hab ich ja schonmal nicht. Also kann ich das mit gottähnlich ausschließen. Und dass ich müde bin, spricht jetzt auch nicht dafür. Sind die also nie müde? Oder stopfen die sich Batterien rektal in… Lassen wir das.

Vielleicht ist es einfach aktuell zu viel. Vielleicht ist es auch der Druck, vor allem mit dem Blog, lesen zu müssen. So viel wie möglich, so aktuell wie möglich.  Tragischerweise bin ich ein Leser, der Ruhe beim Lesen braucht. Zumindest eine gewisse Gelassenheit, wenn ich die nicht habe, kann ich auch kein Buch genießen, sondern es wird nur konsumiert. Und das will ich nicht, dafür sind mir die zu schade. Doch irgendwie braucht man einen Mittelweg, nur was? Ich hab nämlich keine Ahnung. Oder kann ich irgendwo Zeit kaufen? Wenn ja, ist die teuer? Ich bin Student und pleite, also lass sie günstig sein. Beim Discounter, eine Woche im Dreierpack im Sonderangebot. Nur heute, fünf Euro. Greifen Sie jetzt zu, bevor es zu spät ist. Time is running out!

Ja, die läuft wirklich aus. Dabei will ich doch nur Zeit zum Lesen.

Tick-Tick-Tick. Die Zeiger drehen sich schnell. Manchmal fühl ich mich wie das weiße Kanichen, immer zu spät dran, zumindest aktuell. Wahrscheinlich hätte es sogar noch Mitleid mit mir. Ob das weiße Kanichen eigentlich irgendwann Burn-Out hatte? Vielleicht ist das wahre Problem bei Alice in Wunderland die Zeit und der Stress? Vielleicht träumt sich Alice nur…

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